Was ist Trauma?
Interview zum Thema
Trauma und Traumavererbung
MO:DE 13 - House of Mode, ein jährlich publiziertes Magazin der AMD, das sich 2021 mit dem Thema Familie auseinandersetzt, interviewte mich zum Thema Trauma. Hier ein paar Auszüge:
Interview vom Juli 2021
MO:DE13: Was versteht man unter „Trauma“ genau?
Sarah Nemelka: Ein psychisches Trauma ist eine seelische Verletzung, die durch ein extrem belastendes Ereignis hervorgerufen wird. Von einer traumatischen Situation spricht man, wenn sie für den Menschen so überfordernd ist, dass er keine Kontrolle und Strategien mehr hat, mit dieser Situation umzugehen. Dies geht meist einher mit Gefühlen wie Hilflosigkeit und Ohnmacht. Auf der psychischen Ebene tritt eine Notfallreaktion ein, die diese Gefühle abspaltet, da diese lebensbedrohlich sind: traumatisierte Personen fühlen sich nach dem Trauma betäubt oder emotional stumpf und nicht anwesend. Auf der körperlichen Ebene reagiert das Nervensystem auf diese gefährliche Situation mit einer Übererregtheit, die mit einer erhöhten Schreckhaftigkeit und Wachsamkeit einhergeht.
Lange Zeit wurde der Begriff Trauma nur für so genannte Schocktraumata verwendet, also einmaligen Ereignissen wie z.B. Naturkatastrophen, Unfälle oder ein einmaliger (körperlicher) Übergriff. Wenn von Trauma die Rede ist, denken die meisten an Missbrauch, Vergewaltigung oder Krieg. Heute spricht man aber auch von Trauma für die viel „leiseren“ und weniger sichtbaren Ereignisse, wie z.B. permanente Vernachlässigung in der Kindheit, verbale oder körperliche Gewalt in Familien, Liebesentzug usw. Diese werden Entwicklungstraumata genannt, da sie meist über die gesamte Kindheit auftreten und schwerwiegende Folgen für die Betroffenen haben.
Entwickelt jeder ein Trauma, der etwas für ihn Schlimmes erlebt? Warum?
Nein, nicht jeder entwickelt eine Traumareaktion und nicht jeder reagiert mit den gleichen Traumasymptomen. Ob wir eine Situation als traumatisch erleben oder nicht, hängt nicht von dem äußeren Ereignis ab, sondern wie fähig wir sind, dieses Ereignis zu steuern.
Diese Fähigkeit nennt man Resilienz, also psychische Widerstandskraft. Mit ihr wird ausgedrückt, wie gut ein Mensch dazu in der Lage ist, psychische Krisen zu bewältigen. Außerdem ist es wichtig, wie die Betroffenen nach dem traumatischen Ereignis aufgefangen werden, ob sie also Unterstützung bekommen, das Trauma zu verarbeiten.
Die Entwicklung einer psychischen oder körperlichen Reaktion auf ein Trauma ist zudem abhängig vom Entwicklungsstand. Kinder sind verletzlicher als Erwachsene. Vor allem frühe Traumata in der Kindheit haben meist langfristige Folgen für die Betroffenen.
Unter welchen Symptomen leiden Betroffene?
Typischerweise zeigt sich ein gemischtes und wechselndes Bild: auf der emotionalen Seite sind die Betroffenen nach einem traumatischen Ereignis wie betäubt, können sich schwer konzentrieren und Reize verarbeiten, haben schlechte Laune und sind ungeduldig und gereizt. Oft ziehen sie sich zurück, um Außenreize zu vermeiden, die schnell als überfordernd erlebt werden. Dazu kommen Selbstvorwürfe, was zu einem verminderten Selbstwertgefühl und Scham- und Schuldgefühl führen kann.
Auf der anderen Seite reagiert der Körper mit großer Unruhe, Übererregung, Nervosität und Schreckhaftigkeit bis zur Schlaflosigkeit. Oft werden die Bilder der traumatischen Situation in Träumen oder Flashbacks wiedererlebt, ohne dass die Betroffenen das kontrollieren können.
Man unterscheidet zwischen einer kurzfristigen akuten Belastungsreaktion, die nach einer kurzen Zeit wieder von selbst abklingt und einer langanhaltender posttraumatischen Belastungsstörung, bei der die Symptome noch lange Jahre nach dem traumatischen Ereignis plötzlich wiedererlebt werden.
Bei vielen entwickelt sich ein Trauma auch erst Jahre später. Woran liegt das? Gibt es bei der Therapie dann Unterschiede?
Nicht das Trauma entwickelt sich später, sondern die Traumareaktionen können sich erst Jahre später zeigen. Betroffene entwickeln nach einem Trauma sogenannte Überlebens- oder Anpassungsstrategien, die dafür sorgen, dass das traumatische Erlebnis mit den Hilflosigkeits- und Ohmachtsgefühlen abgespalten werden. Dies ist eine Schutzreaktion, die für uns Menschen überlebenswichtig ist, bedeutet aber auch, dass das Trauma somit unverarbeitet gespeichert bleibt. Unverarbeitete Traumatisierungen führen im Laufe unseres Lebens durch Krisen zu einem Wiedererleben von starken Emotionen und Körperempfindungen, welche den Eindruck vermitteln, dass das Trauma nochmal im „hier und jetzt“ stattfindet. z.B. kann die Angst von Damals sich als Angst im Heute zeigen, wobei aber nicht klar ist, wodurch sie ausgelöst wurde und warum sie so heftig ist. Durch Krisen oder bestimmte Lebensereignisse im Heute können die alten Traumagefühle ausgelöst werden und sich so erst Jahre später zeigen.
Kann man Traumata wirklich heilen oder lernt man eher damit umzugehen/zu leben?
Ein Trauma ist eine Wunde, die heilen kann. Durch Therapie können wir lernen, diese Wunde zu versorgen und zu schließen. Dies wird z.B. dadurch deutlich, dass Betroffene körperlichen Empfindungen und Gefühlen nicht mehr so hilflos ausgeliefert sind, wenn sie es lernen, mit den Emotionen umzugehen, sie zu verstehen also über den Verstand einzuordnen und ein Verständnis und Mitgefühl für sich selbst zu entwickeln. Was nach der Heilung der Wunde bleibt ist eine Narbe, die uns an das Erlebte als Teil unserer Lebensgeschichte erinnert, es jedoch dann keinen Einfluss mehr auf unser Hier und Jetzt hat.
Wie geht man in der Traumatherapie vor?
Das Wichtigste in der Traumatherapie ist, den Klienten nicht zu retraumatisieren, das heißt durch die therapeutische Arbeit die Gefühle und verdrängten Erinnerungen direkt hervorzuholen. Damit dies nicht passiert, ist es wichtig, zuerst Vertrauen aufzubauen und einen sicheren Rahmen zu schaffen, bis sich der Klient an das Trauma wagen kann. Besonders wichtig ist stabilisierend zu wirken, in dem die KlientInnen durch verschiedene Techniken und Wissensvermittlung über das Traumgeschehen lernen, die Gefühle bei der Bearbeitung des Traumas überhaupt auszuhalten und so zu verarbeiten.
Ein anderer wichtiger Teil der Traumatherapie ist das Erkennen der eigenen Traumatisierung, um die Zusammenhänge und Folgen der früheren traumatischen Erlebnisse mit den heutigen Gefühlen und Körperempfindungen zu verstehen. Somit können Betroffene eine Trennung der vergangenen Ereignisse zum Hier und Jetzt machen.
Ich selbst verwende die therapeutische Aufstellungstechnik, mit der man Verstrickungen, Verbindungen und Verletzungen, die mit dem Trauma und dem heutigen Problem in Verbindung stehen, sehr gut sichtbar machen und bearbeiten kann.
Wie kann das Umfeld (Familie/Freundeskreis) eine Unterstützung sein? („Erste Hilfe“)
Ich denke auch für die Angehörigen von Betroffenen ist die Aufklärung sehr wichtig, was Trauma mit uns machen kann und welche Symptome als Traumafolgen gesehen werden können. Außerdem brauchen Betroffene Verständnis und möglichst keinen Druck oder Ratschläge wie: „Jetzt stell dich nicht so an! Früher gings doch auch! Du warst doch immer so ein fröhlicher Mensch“.
Für viele traumatisierte Menschen ist es sehr schwierig, sich Hilfe zu holen, da oft viel Scham darüber besteht, was ihnen passiert ist und was das für Auswirkungen auf sie hat. Hierbei können Freunde oder Familienangehörige unterstützen, in dem sie sich informieren, was es für Hilfsmöglichkeiten gibt.
Viele Betroffene sprechen sich das Recht ab, wieder Freude am Leben zu haben. Wie kann man dabei helfen?
Durch ein Trauma wird der gesamte menschliche Organismus in Alarmbereitschaft versetzt. Sind wir gestresst, ist es kaum möglich sozial zu interagieren. Um uns auf andere einzulassen oder andere Menschen überhaupt auszuhalten, brauchen wir körperlich und psychisch das Gefühl von Sicherheit. Ist dies nicht gegeben, sind wir ständig damit beschäftigt, die Gefahr zu lokalisieren und uns innerlich schon auf die nächste potenzielle Gefahr vorzubereiten.
In so einem Zustand ist es schwer, Freude zu empfinden. Die Betroffenen merken dies und machen sich oft selbst Vorwürfe, da sie denken, es wäre ihre eigene Schuld. Eine große Hilfe ist hier, zu vermitteln, dass sie nicht schuld sind und sich auch bei größter Anstrengung nicht anders fühlen würden. Freudlosigkeit ist leider meist eine Folge von traumatischem Erleben.
Können Traumata weitervererbt werden?
In der Traumaforschung wurde schon lange vermutet, dass Menschen, welche traumatische Ereignisse erlebt und Traumafolgestörungen entwickelt haben, diese Erfahrungen an ihre Kinder vererben, da diese auch statistisch häufiger und meist ähnliche psychische oder körperliche Erkrankungen entwickeln wie die eigenen Eltern. Wie das genau im menschlichen Körper funktioniert, war jedoch lange nicht klar.
Nun gibt es eine relativ neue wissenschaftliche Richtung – die Epigenetik - die sich genau damit beschäftigt: Sie untersucht, wie sich die Umwelteinflüsse auf unsere Erbinformation und somit auf unsere Erfahrungen damit auswirken, ohne diese zu verändern. In unseren Genen also der DNA ist unsere Anlage gespeichert. Diese bleibt immer gleich, unsere gemachten Erfahrungen bestimmen aber angeblich, welche Teile unseres Erbguts tatsächlich an- oder abgeschaltet werden und somit auf unser Leben wirken.
Ich bin keine Neurowissenschaftlerin, aber ich würde es so vereinfacht sagen: hat eine Frau ein traumatisches Erlebnis, gibt es im Körper chemische Veränderungen, sodass auf der DNA Sequenz ein Marker gesetzt wird, der z.B. für die Verarbeitung von Stress zuständig ist. Dies bedeutet, dort ist markiert, wie die Mutter mit Stress in ihrem Leben umgeht. Diese Bereitschaft auf Stress zu reagieren ist meist mit einem höheren Risiko für Erkrankungen verbunden (so kann auch durch Stress eine Posttraumatische Belastungsstörung ausgelöst werden). Diese Marker auf der DNA können an die Kinder weitervererbt werden.
Kann Trauma-Vererbung verhindert werden? Wie?
Das Beeindruckende an der Epigenetik ist für mich die neue Sichtweise auf unser Leben: Wir sind nicht nur das Produkt unserer Gene, sondern können unsere Erbinformation durch unser Handeln beeinflussen. Genauso wie sich schreckliche Dinge, die uns widerfahren, auf die Lesbarkeit unsere Gene auswirken können, können sich auch Selbstfürsorge, gesunde Ernährung, liebevoller Umgang miteinander aber auch therapeutische Bearbeitung der Traumata positiv auswirken.
Dies ist ein völlig neues Denken, welches uns Menschen zu mehr Eigen Verantwortung ermutigen sollte. Ich denke, wirklich verhindern können wir Trauma-Vererbung nicht, da wir ja nicht genau wissen, was wir eigentlich vererben und was nicht.
Mir ist es hier besonders wichtig zu betonen, dass eine Aufarbeitung von traumatischen Erlebnissen möglich ist und wir dadurch ein Mehr an Lebensqualität für uns selbst und für unsere Kinder erreichen können. Wir können schon präventiv, also wir Kinder bekommen, unsere Geschichte und nicht bearbeiteten Erlebnisse aufarbeiten. Aber natürlich, auch wenn wir schon Kinder haben, ist es möglich, mit liebevoller Zuwendung und Sorgen für die Sicherheit der Kinder das Epigenom zu verändern.
Verschwinden die epigenetischen Veränderungen nach einer erfolgreichen Therapie?
Mir ist noch keine Studie bekannt, die dies direkt nachweisen konnte, aber nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Veränderbarkeit des Epigenoms gehe ich davon aus, dass genau das bei einer Therapie stattfindet: Durch die Bearbeitung eines traumatischen Geschehens kommt es zu körperlichen und psychischen Veränderungen. Ganz vereinfacht gesagt, kommt es in der Therapie zu einer Beruhigung: der Körper lernt sich wieder zu entspannen und die Emotionen werden meist in ihrer Intensität weniger. Somit verändert sich der Umgang mit Stress, was sich dann wiederum auf die Epigene auswirken kann. Und sich natürlich auch auf den Umgang mit den Kindern auswirkt.
Woran liegt es, dass manche Menschen resilient sind? Kann man diese Resilienz auch vererben?
Meines Wissens wird auch das gerade intensiv erforscht: Warum überstehen manche Menschen schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung, während andere traumatischen Folgeerkrankungen ausbilden. Und ja, ich denke, auch die Resilienz, also die psychische Widerstandskraft, kann vererbt werden. Vielleicht ist dies der Grund, warum es in manchen Familien eine Häufung an schweren Erkrankungen und traumatischen Erlebnissen gibt und in anderen Fällen viel weniger.
Das Familienmitglied, das vererbt hat, im nahen Umfeld zu haben: Eher ein Fluch oder Segen? Warum?
Das ist mir zu plakativ ausgedrückt. Wir wachsen in unserer Ursprungsfamilie auf, ohne dass wir als Kinder etwas ändern können und mit dem wir umgehen müssen. Vererben die Eltern ihre Trauma-Erfahrungen an die Kinder, so ist dies eine menschliche Tatsache und mir ist ganz wichtig, dass wir nicht anfangen, allen Eltern pauschal Schuld zu geben, wie das Leben der Kinder verläuft. Es geht nicht um Schuldzuweisungen, sondern darum, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Ja, es kann sehr schwierig sein, wenn ein Kind in einer von Trauma geprägten Familie aufwächst und die Erlebnisse der Eltern sowohl epigenetisch wie auch im Umgang miteinander, mitbekommt: Daran kann das Kind meist aber nichts ändern. Ich denke da zum Beispiel daran, dass bei wahrscheinlich allen die zwei Weltkriege im letzten Jahrhundert noch in den Familiengeschichten, auf die eine oder andere Art, wirken. Wichtig ist die Erforschung, was in der Familie geschehen ist und welche Auswirkungen das auf jeden Einzelnen von uns hat. Dann ist Veränderung auch möglich.
Auf der anderen Seite wäre es mir gesellschaftspolitisch wichtig, dass hier ein Umdenken stattfindet: dass es Menschen gibt, die durch ihre Erfahrungen verletzbarer sind und somit mehr Unterstützung und Schutz brauchen und vielleicht nicht so viel leisten können wie andere. Eine traumatisierte Mutter sollte für sich selbst und für die Erziehung ihrer Kinder mehr Unterstützung bekommen und nicht dafür stigmatisiert werden. Somit wäre sie geschützt und die Kinder gleichermaßen.